Phrenological bust by LN FowlerPhrenological bust by LN FowlerThe History of Phrenology on the Web

by John van Wyhe


Gall, Brief an Retzer, Der neue Teutsche Merkur, 3, Dec. 1798, pp. 311-332.

 

 This letter was the first published account of Gall's system. Written 1 October 1798 to Joseph von Retzer, a Viennese censorship official. The letter remains a succinct description of Gall's system. The letter was published in the Weimar Enlightenment journal Der neue Teutsche Merkur edited by the famous German poet Christoph Martin Wieland.

See also the English translation from Goyder, My Battle for Life: The Autobiography of a Phrenologist

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Des Herrn Dr.F.J. Gall Schreiben über seinen bereits geendigten Prodromus über die Verrichtungen des Gehirns der Menschen und Thiere an Herrn Jos. Fr. von Retzer.

Endlich kann ich das Vergnügen haben, Ihnen einen Entwurf meiner Abhandlung: Über die Verrichtungen des Gehirns, und über die Möglichkeit, mehrere Fähigkeiten und Neigungen aus dem Baue des Kopfes und Schedels zu erkennen, Mitzutheilen. Ich bemerkte bisher mit vieler Freude, dass durchaus Männer von Kopf und von Kenntnissen der Entwickelung meiner Bemühungen mit ruhiger Erwartung entgegen sahen, da indessen andere bald nur den Schwärmer, bald den gefährlichen Neologen vor Augen hatten.

Im Ganzen geht mein Zweck dahin: die Verrichtungen des Hirns überhaupt, und seiner Bestandtheile insbesondere zu bestimmen; dass man in der That mehrere Fähigkeiten und Neigungen aus Erhabenheiten und Vertiefungen am Kopfe oder Sehedel erkennen kann, und die wichtigsten Wahrheiten und Folgerungen, welche sich hieraus für die Arzneywissenschaft, für die Sittenlehre, Erziehung, Gesetzgebung u. s. w. und überhaupt für die nähere Menschenkenntniss ergeben, einleuchtend vorzutragen. Natürlich gehört hierzu eine weitläufige Ausführung von Zeichnungen und Kupfern. Ich führe daher hier von den besondern Eigenschaften und ihren Merkmalen nur so viel an, als zur Festsetzung und Erläuterung der Hauptgrundsätze nöthig ist. Der besondere Zweck des jetzigen Werkes also ist: den Gesichtspunkt meiner Untersuchungen anzuzeigen, Grundsätze festzusetzen, und ihre Anwendung auf fernere Beobachtungen zu lehren. Sie sehen wohl ein, dass es eine gewagte Sache ist, die reinen Quellen der Denk- und Handlungsweise des Menschen aufzusuchen. Es mag mir daher in Etwas gelungen seyn oder nicht, so zähle ich doch schon um des Wagestücks selbst willen entweder auf Ihren Beifall, oder auf Ihre Nachsicht.

Belieben Sie sich vorläufig zu erinnern, dass ich unter Kopf oder Schedel einzig diejenigen Kopf- oder Schedelknochen verstehe, welche die Hirnhöhle ausmachen, und auch davon nur diejenigen Theile, welche unmittelbar vom Hirn berührt werden. Auch müssen Sie mir's nicht verargen, dass ich mich nicht der Kantischen Sprache bedient habe. Ich bin in meinen Untersuchungen noch nicht so weit gekommen, dass ich besondere Organe für Scharfsinn und Tiefsinn, für das Prinzip des Vorstellungsvermögens, für die verschiedenen Arten des Urtheilsvexmögens u.s.w. entdeckthätte. Sogar binich vielleicht in genauer Bestimmung der Begriffe manchmal zu nachlässig gewesen, weil ich nun dahin arbeitete, einstweilen in der Hauptsache von vielen Lesern verstanden zu werden. Das ganze Werk zerfällt in zwey Theile, (die zusammen gegen 10 Bogen betragen.) Der erste Theil enthält die Grundsätze.

Ich fange nämlich mit meinen Lesern dort an, wo die Natur mit mir aufgehört hat. Nachdem ich die mühsamen Erfahrungen beisammen hatte, bildete ich mir ein Gebäude von den Gesetzen ihres Zusammenhanges. Ich will Ihnen die Grundsätze kurz hersetzen.

I. Fähigkeiten und Neigungen sind dem Menschen und dem Thiere angeboren.

Sie sind gewiss keiner von denen, der mix hierin widerspräche. Aber als ein Sohn der Minerva müssen Sie auch mit den Waffen ausgerüstet seyn, um für sie zu kämpfen. Sollte Ihnen daher Einer einwenden, dass wir durch diese Angebôremheit mehr zu Werkzeugen als zu Herrn unserer Handlungen geeignet worden, also dem innern Anstosse preisgegeben sind; was da wohl aus Freiheit werde? wie uns das Gute und Böse beygemessen werden könne? so erlauben Sie mir, Ihnen meine Antwort aus meinem Prodromus wörtlich abzuschreiben. Das übrige thun Sie von Ihren moralischen und theologischen Kenntnissen hinzu.

«Die sich überreden wollen, unsere Eigenschaften seyen uns nicht angeboren, leiten sie von der Erziehung her. Haben wir uns aber in jedem Falle nicht gleich leidend verhalten, ob wir durch Angebornheit oder durch Erziehung auf gewisse Weise geartet worden sind? In diesem Einwurfe verwechselt man die Begriffe von Fähigkeit und Neigung, von blosser Anlage, mit der Handlungsweise selbst. Selbst die Thiere sind nicht schlechterdings ohne alle Willkühr ihren Fähigkeiten und Neigungen untergeordnet. So mächtig der Hund zum Jagen und die Katze zum Mausen angereitzt werden, so lassen sie doch bey wiederholten Züchtigungen die Ausführung dieser Triebe. Vögel flicken das zerrissene Nest aus und Bienen übertünchen ein Aas, das sie nicht zu entfernen vermögen, mit Wachs. Der Mensch aber hat ausser den thierischen Eigenschaften Sprachfähigkeit und die ausgedehnteste Erziehungsfähigkeit; zwey Quellen von unerschöpflichen Kenntnissen und Beweggründen. Er hat Sinn für Wahrheit und Irrthum, für Recht und Unrecht, für Vorstellungen eines unabhängigen Wesens; das Vergangene und die Zukunft könne seine Handlungen leiten; er ist mit dem Gefühl von Sittlichkeit und mit deutlichem Bewusstseyn begabt u. s. w.

Mit diesen Waffen tritt der Mensch gegen seine Neigungen in Kampf. Die sind zwar immer noch Reitze, die ihn in Versuchung führen; aber keine solchen mehr, dass sie nicht durch entgegengesetzte oder stärkere abgestumpft, unterdrückt werden könnten. Ihr habt den Reitz, die Neigung zur Wollust: allein Sittlichkeit, eheliche Liebe, Gesundheit, gesellschaftlicher Anstand, Religion u.s.w. dienen euch zu Gegenreitzen, dass Ihr der Wollust nicht fröhnet. Erst aus diesem Kampfe entspringt Tugend, Laster und Beymessung. Was hiess die so theuer anempfohlene Selbstverläugnung, wenn sie keinen Streit mit unserem Inneren voraussetzte? Je mehr also die Gegenreitze vervielfältigt und verstärkt werden, desto mehr Willkühr und sittliche Freiheit erhält der Mensch. Je stärker die innern Antriebe sind, desto stärkere Gegenreitze werden nöthig. Hieraus entsteht die Nothwendigkeit und der Nutzen der näheren Menschenkenntniss, der Lehre von dem Ursprunge seiner Fähigkeiten und Neigungen, der Erziehung, der Gesetze, der Strafen und Belohnungen der Religion. Die Beymessung fällt aber, selbst nach der Lehre der strengsten Gottesgelehrten, alsdann ganz weg, wenn der Mensch entweder gar nicht gereitzt wird oder auf keine Weise dem allzuheftigen Reitze widerstehen kann. Ist wohl die Enthaltsamkeit jener Verschnittenen preisenswerth, welche aus Mutterleibe also geboren sind? Rush führt das Beyspiel einer Frau an, die bei allen übrigen sittlichen Tugenden dennoch dem Drange zu ste durchaus nicht widerstehen konnte. Ähnliche Beyspiele, ja sogar voll unwiderstehlicher Mordsucht, sind mehrere bekannt. Obschon wir das Recht behalten, solche Unglückliche unschädlich zu machen, so ist doch jede Strafe an ihnen ebenso ungerecht als unnütz und sie verdienen nichts als unser Mitleiden. Ich werde einstens Richter und Ärzte mit dieser zwar seltsamen aber traurigen Erscheinung besser bekannt machen. »

Nachdem nun unsere Gegner beruhigt sind, führe ich sie auf die Fragen: Auf welche Weise die Fähigkeiten und Neigungen der Menschen und Thiere in ihre Natur verwebt sind? ob sie Äusserungen einer blos geistigen, blos selbstthätigen Kraft der Seele seyen? oder ob die Seele an irgend eine körperliche Einrichtung gebunden sey? und an was für eine? Hieraus entsteht der zweite Grundsatz.

II. Die Fähigkeiten und Neigungen haben ihren Sitz, ihren Grund im Hirne.

Ich zeige die Beweise an. 1. Die Seelenverrichtungen werden durch Verletzungen des Hirns verletzt, nicht unmittelbar durch Verletzungen der übrigen Theile des Körpers. z. Ist das Hirn zum Leben nicht nöthig. Da aber die Natur nichts umsonst gemacht hat, so muss das Hirn wohl einen andern Zweck haben, nämlich 3. Die Geistes- und Gemüthseigenschaften oder die Fähigkeiten und Neigungen der Menschen un der Thiere werden in eben dem Verhältnisse theils vervielfältigt, theil veredelt, als das Hirn stufenweis an Menge im Verhältniss zur Körpermaasse, vorzüglich im Verhältniss zur Nervenmaasse zunimmt Hier stehen wir in Gesellschaft mit dem Eber, dem Bären, dem Pferd und Ochsen, mit dem Kameele, dem Delfin, dem Elefanten und mit ei ner blödsinnigen Vettel. Da ergiebt sich, dass ein Mann wie Sie meh als noch einmal so viel Hirn hat als eine dumme Betschwester und we nigstens Zlm mehr als der weiseste der Elefanten. Und so wird man end j lich geneigt, den zweiten Grundsatz anzunehmen.

III. IV. Nicht nur die Fähigkeiten sind wesentlich von den Neigungen verschieden und unabhängig, sondern auch die Fähigkeiten unter sich und die Neigungen unter sich sind von einander wesentlich verschieden und unabhängig; folglich müssen sie ihren Sitz in verschiedenen und unabhängigen Theilen des Hirns haben.

Beweise. 1. Man kann Geistes- und Gemüthseigenschaften abwechselnd in Ruhe und in Thätigkeit versetzen, so dass die eine, nachdem sie ermüdet war, ausruht und sich erholt, während die andere höchst wirksam ist und ermüdet wird. 2. Fähigkeiten und Neigungen stehen sowohl beym Menschen als bey Thieren von einerley Gattung in höchst verschiedenen Verhältnissen beisammen. 3. Verschiedene Fähigkeiten und Neigungen sind in verschiedenen Thiergattungen ganz von einander getrennt. 4. Fähigkeiten und Neigungen werden ungleichzeitig entwickelt, weil die einen vergehen, ohne dass die andern vermindert, ja während sie vielmehr verstärkt werden. Bey Krankheiten und Verletzungen einzelner Theile des Hirns werden einzelne Eigenschaften verletzt, gereitzt, unterdrückt, vertilgt und kehren bey der Wiedergenesung eben so theilweis in den natürlichen Zustand zurück. Ich halte mich für keinen so grossen Mann, dass ich etwas behaupten dürfte, ohne es zu beweisen; daher habe ich jeden dieser Beweise mit Thatsachen geltend zu machen gesucht. Des ungeachtet macht mir manches zarte Gewissen die Einwendung: Wenn man aber für die Seelenverrichtungen körperliche Werkzeuge, Organe festsetzt, wird nicht dadurch die geistige Natur und folglich die Unsterblichkeit der Seele angefochten?

Belieben Sie auch hierauf die Antwort zu hören. Der Naturforscher ergründet blos die Gesetze der Körperwelt und setzt voraus, dass keine natürliche Wahrheit mit irgendeiner geoffenbarten in Widerspruch gerathen könne. Er weiss ferner, dass weder Geist noch Körper ohne unmittelbaren Wink des Schöpfers zerrichtet werden; dass er nichts über das geistige Leben entscheiden kann. Er sieht nur und lehrt, dass in diesem Leben der Geist an die körperliche Einrichtung gefesselt ist. Dieses im Allgemeinen.

Insbesondere aber antworte ich folgendes: In diesem Einwurfe verwechselt man das wirkende Wesen mit dem Werkzeuge, wodurch es wirkt. Was ich von den innern Sinnen, das ist von den innern Organen der Seelenverrichtungen unter No. 1 2 3 4 5 behauptet habe, hat alles bey den äussern Sinnen statt. Während z. B. das ermüdete Auge ausruht, kann man aufmerksam hören; das Gehör kann zerstört seyn, ohne dass das Gesicht im geringsten dabey leidet; einige Sinnen können unvollkommen, andere höchst scharf seyn. Würmer hören nicht und sehen nicht, haben aber ein feines Gefühl; der neugeborne Hund ist noch mehrere Tage taub und blind, da doch sein Geschmack schon vollkommen entwickelt ist. Im Greisenalter nimmt gewöhnlich das Gehör früher ab als das Gesicht, und der Geschmack bleibt meistens vortrefflich. Also eben die Merkmale ihrer Unabhängigkeit und Selbständigkeit, an der Niemand zweifelt! Hat deswegen noch Jemand gefolgert, dass um der wesentlichen Verschiedenheit der Sinne willen die Seele körperlich oder sterblich seyn müsse? Ist es darum eine andere Seele, welche hört als jene, welche sieht? Ich führe die Vergleichung etwas weiter aus.

Man irrt, wenn man glaubt, das Auge sehe, das Ohr höre u. s. w. Jedes äusserliche Sinnenwerkzeug steht durch seine Nerven in Verbindung mit dem Hirn, wo beim Anfange des Nerven eine angemessene Hirnmasse das eigentliche innere Organ dieser Sinnesverrichtung ausmacht. Sey daher das Auge selbst noch so gesund, sey sogar der Sehnerve unverletzt: wenn das innerliche Organ krank oder zerstöhrt ist, so nützen Auge und Sehnerve nichts mehr. Folglich haben auch die äusserlichen Sinnenwerkzeuge ihre Organe im Hirn und diese äussern Werkzeuge sind nur das Mittel, wodurch ihre innerlichen Organe mit den äusserlichen Gegenständen in Verbindung oder in Gegenwirkung gesetzt werden.

Aus diesen Gründen ist es weder Boerhaven, noch Hallern, noch Mayerns, selbst dem frommen Lavater, der die Geisteseigenschafte im Kopfe, die Gemüthseigenschaften im Rumpfe sucht, nicht beyge fallen, dass man aus der Verschiedenheit und Selbständigkeit der Fä higkeiten und Neigungen und aus der Verschiedenheit und Unabhän gigkeit ihrer innern Organe jemals etwas gegen die Geistigkeit un Unsterblichkeit der Seele folgern könne. Die nämliche Seele, welch durch das Sehorgan sieht und durch das Riechorgan riecht, lernt durc das Organ des Gedächtnisses auswendig und erweiset Gutes durch da Organ der Guthmütigkeit. Immer eine und die nämliche Feder, welch bei Euch weniger und bei mir mehr Räder treibt. Nun wären die Ver. richtungen des Hirns im Allgemeinen bestimmt. Ich gehe jetzt zu dem Beweise über: dass es möglich ist, das Daseyn und das Verhältniss mehrerer Fähigkeiten und Neigungen aus dem Baue des Hirnbehälters zu bestimmen, wodurch die Verrichtungen der besondern Theile des Hirns ohnehin erwiesen werden.

V. Aus der verschiedenen Austheilung der verschiedenen Organe pnd aus der verschiedenen Entwickelung derselben entstehen verschiedene Formen des Hirns.

Unter den hieher gehörigen Beweisen führe ich die Verschiedenheiten des Hirnbaues an den Thieren, die sich vom Fleische nähren, bey Thieren, die sich von Pflanzen und bey solchen, die sich von beiden nähren. Dann zeige ich den Grund der verschiedenen Thiergattungen und der zufälligen Verschiedenheiten der Arten und Individuen.

VI. Aus der Zusammenstellung und Entwickelung bestimmter Organe entsteht eine bestimmte Form theils des ganzen Hirns, theils einzelner Theile oder Gegenden desselben.

Hier nehme ich Gelegenheit zu beweisen, dass Organe desto wirksamer sind, je mehr sie entwickelt werden, ohne darum andere Reitze auszuschliessen. Wie führt aber alles dieses zur Möglichkeit, mehrere Fähigkeiten und Neigungen aus dem Baue des S chedels zu erkennen? Ist denn vielleicht die Schedelform ein Abdruck der Hirnform?

VII. Von Entstehung der Kopfknochen an bis zum höchsten Alter wird die Form der innern Schedelfläche von der äussern Form des Gehirns bestimmt; folglich kann so lange auf gewisse Fähigkeiten und Neigungen geschlossen werden, als die äussere Schedelfläche mit der innern übereinstimmt oder von den bekannten Abweichungen keine Ausnahme macht.

Ich erkläre hier die Entstehung der Kopfknochen, woraus folgt, dass sie bis zur Zeit der Geburt ihre Form vom Hirn erhalten. Dann rede ich vom Einflusse anderwärtiger Ursachen auf die Kopfbildung, wobey wieder neue anhaltende Gewaltthätigkeiten in Betracht kommen können. Jetzt zeige ich, dass sich die Organe in der Folge bis zur vollkommenen Ausbildung in eben dem Verhältnisse und in eben der Ordnung entwickeln, wie wir dieses in Hinsicht der Stuffen und der Ordnung der Fähigkeiten und Neigungen von der ersten Kindheit an beobachten und dass die Kopfknochen ebenfalls in dem Verhältnisse und in eben der Ordnung verschiedene Gestalten annehmen. Endlich erkläre ich die Abnahme unserer Fähigkeiten zum Theil durch das Einschwinden der Organe und zeige, wie die Natur an den leergewordenen Raum neue Knochenmasse absetzt. Lauter Dinge, die bisher in der Kopfknochenlehre unbekannt waren. Hiermit wäre also der erste Schritt zur Bestimmung der besondern Verrichtungen einzelner Hirntheile gethan.

ZWEITER THEIL.

Anwendung der allgemeinen Grundsätze.

Über die Festsetzung und Bestimmung der selbstständigen Fähigkeiten und Neigungen.

Da ich für jede selbstständige Eigenschaft ein eigenes Organ voraussetze, so liegt alles daran, dass ausgemacht werde, welche Eigenschaften selbstständig sind, um zu wissen, was für Organe man zu entdecken hoffen dürfe. Hierbey habe ich seit mehrernjahren viele Schwierigkeiten gefunden. Am Ende bin ich wieder wie sonst überall überzeugt worden, dass man den kürzesten und sichersten Weg geht, wenn man das vorgreifliche Vernünfteln erspart und sich ruhig durch Thatsachen führen lässt.

Ich mache meine Leser mit einigen Schwierigkeiten bekannt. Sie mögen sehen, ob sie scharfsinniger sind als ich war. Endlich komme ich auf die Hilfsmittel, die mir in Bestimmung der Selbstständigkeit der Eigenschaften am meisten gedient haben. Jetzt fange ich an, etwas bestimmter vom Sitze der Organe zu sprechen. Vor allem müssen da die Mittel angegeben und geprüft werden, durch welche man den Sitz der Organe entdeckt. Unter diesen führe ich an: 1. Die Entdeckung bestimmter Erhabenheiten oder Vertiefungen bey bestimmten Eigenschaften. Hier wird beyläufig bemerkt, wie dergleichen Untersuchungen anzustellen sind. 2. Bestimmte Eigenschaften bey bestimmten Erhabenheiten. 3. Eine Sammlung von Gypsabdrücken. 4. Schedelsammlung.

In Hinsicht der Menschenschedel wird dieses manchen schwer werden. Sie wissen, wie jedermann hier nach seinem Kopfe grif, wie viel Märchen man gegen mich erfunden hatte, als ich so etwas anfing. Unglücklicherweise halten alle Menschen so viel auf sich selbst, dass jeder überzeugt ist, ich laure auf seinen Kopf als einen der wichtigsten Beyträge in meine Sammlung; und doch habe ich seit drey Jahren höchstens 20 zusammengebracht, wenn ich die ausnehme, die ich von Spitälern und dem Tollhause genommen habe. Hätte mich nicht ein Mannb unterstützt, der die Wissenschaften zu befördern und die Vorurtheile zu schonen weiss, den um seiner Geistes- und Gemüthseigenschaften willen jeder Stand und jedes Volk schätzt, so würde ich's bey allem Fleisse doch nur auf kümmerliche Stückwerke gebracht haben. Einige gehen so weit, dass sie sogar ihren Hunden und Affen keine Stelle in meiner Sammlung zugedacht wissen wollen. Sehr angenehm wäre tnir's, wenn mir Köpfe von Thieren zugeschickt würden, deren Karakter man genauer beobachtet hätte z. B. von einem Hunde, der nichts frass, was er nicht gestohlen hatte, der sich von einer weiten Strecke zu seinem Herrn zurückfand- von Affen, Papageien oder andern seltenen Thieren mit Lebensgeschichten, die aber erst nach ihrem Tode verfasst seyn dürften, weil ich sonst besorgen würde, sie möchten zuviel Schmeicheleyen enthalten.

Könnten Sie es endlich zur Mode machen, dass mich in der Folge jede Art von Genie zum Erben seines Kopfes einsetzte, o so stünde ich Ihnen mit meinem Kopf dafür, dass in 10 Jahren ein herrliches Gebäude dastünde, wozu ich einstweilen blos Materialien liefere. Gefährlich wäre es freilich für einen Kästner, Kant, Wieland u.d.g. wenn mir Davids Würgengel zu Gebote stünde. Allein als ein guter Christ will ich mit Geduld auf Gottes langmüthige Barmherzigkeit harren.

Aber, lieber Retzer, schauen Sie doch nur mit mir in die Zukunft. Da stünden die Auserwählten des Menschengeschlechts von Jahrhunderten beysammen; wie sie sich einander danken für jedes Körnlein, das jeder zum Nutzen und zum Vergnügen der Menschen gesäet hat. Warum hat uns Niemand die Schedel eines Homers, Ovids, Virgils, Ciceros, Hippokrates, Boerhavens, Alexanders, Friedrichs, Josefs, Katharinens, Voltairs, Rousseaus, Lokes, Bakos, Newtons u.s.w. aufbewahret? Welcher Schmuck für die herrlichsten Tempel der Musen! Ich kehre zum 5ten Hülfsmittel zurück. 5. Erscheinungen bey Krankheiten und Verletzungen des Hirns.

Da habe ich wieder viel zu sagen. Das wichtigste ist eine ganz neue unbekannte Lehre über die verschiedenen Arten des Wahnsinns und über die Heilart desselben, welches alles mit Thatsachen belegt wird. Hätte ich dies Einzige mit all meinen Untersuchungen erreicht, so wäre ich theuer bezahlt. Sollten mir also keine gescheiden Leute danken, so bin ich wenigstens des Dankes der Narren gewiss.

Das 6. Hülfsmittel, den Sitz der Organe zu entdecken, besteht darin, dass man die Bestandtheile der verschiedenen Gehirne und das Verhältniss derselben immer mit Rücksicht auf ihre verschiedenen Fähigkeiten und Neigungen untersuche. 7. Endlich komme ich wieder zu einem meiner Lieblingsgegenstände, zur Stuffenleiter der Veredelungen. Da komme ich mir ungefähr vor, wie ein einäugiger Jupiter, der sein irdisches Thierreich vom Himmel herabwimmeln sieht. Denken Sie sich einmal die ungeheure Strecke, die ich da vom Seestern und vom Polypen bis zum Filosofen und Theosofen durchzuschauen habe. Freilich erlaube ich mir, wie Ihr Herrn Dichter manchen halsbrecherischen Sprung. Anfänglich erschaffe ich blos reitzbare Fasern; nach und nach erfinde ich Nerven und die Zwitternatur. Wer einmal etwas besseres verdient hat, darf sich begatten und durch Sinnenwerkzeuge in die Welt hineingucken. Jetzt erst nehme ich meinen Vorrath von Kraftwerkzeugen zu Hülfe, theile sie nach Belieben aus, mache Käfer, Fische, Vögel, Säugthiere, euren Damen Schoosshündchen, euren Stut zern Pferde und mir Menschen, das ist: Narren und Weise, Vestahnne und Sultane, Dichter und Geschichtschreiber, Gottesgelehrte und Naturkundige u.s.w. So wäre ich also, was euch Moses schon lange gesag hat, mit den Menschen zuletzt fertig geworden.

Es hat mich manchen neuen Gedanken gekostet, bis ihr endlich z Königen der Erde herangediehen seyd. Und damit ihr förmlich mi einander Komödie spielen könnt oder wenn einer taubstumm werde sollte, euch noch eine andere Sprache überblieb, so habe ich euch da Gebehrdenspiel' gegeben. Obschon noch keinem beigefallen ist, mi dafür zu danken, so will ich doch jetzt noch so viel verrathen, dass ic dieses blos dadurch bewirkte, dass ich euren Körper, eure Muskeln au eine sonderbare Weise mit den Hirnorganen in Verbindung gesetz habe. Eigentlich seyd ihr mir dabey lauter Puppen im Marionettenspie le. Je nachdem gewisse Organe in Bewegung gerathen, je nachde müsst ihr vermöge ihres Sitzes eine Stellung annehmen, als wenn i am Drahte gezogen würdet, so dass ihr sogar blos aus diesem Gebehrdenspiele den Sitz der dabei thätigen Organe entdecken könnt. Ich weiss wohl, dass ihr für jetzt noch so kurzsichtig seyd und hierüber lacht; aber gebt euch die Mühe der Sache nachzuforschen, so werdet ihr überzeugt werden, dass ich mehr von meiner Schöpfung entdeckt habe, als ihr fast werth seyd. Da werdet ihr noch manches Rätsel aufgedeckt finden z. B warum ihr euch so wacker um eure Weibchen wehret; warum ihr gegen ein höheres Alter hin Filze werdet; warum Niemand schwerer seine Meinung verlässt als der Theolog; warum mancher Stier niesen muss, wenn ihn eine Europa zwischen den Hörnern krabbelt u. s. w.

Nun kehre ich wieder, mein lieber Retzer, als armer Schriftsteller zu Ihnen zurück, um Ihnen ferner Rechenschaft zu geben. Da hier die erste Abtheilung des zweiten Theils zu Ende ist, so hätte ich meine Leser bitten sollen, alles was bisher gesagt worden ist, zu vergleichen, damit sie dadurch noch mehr von der Wahrheit der ersten Grundsätze, die ich vielleicht zu flüchtig vorgetragen habe, überzeugt würden. Allein ich dachte, wer beym Lichte blind bleibt, sieht bey der Fackel auch nicht viel.

Die zweite Haupt-Abtheilung enthält vermischte Gegenstände.

1. Von Nazionalköpfen. Hier vereinige ich mich einigermassen mit Helvetiuss, dem ich bisher widersprochen habe. Vielleicht verderbe ich es ein wenig mit den mir so theuren Männern Blumenbach, Camper und Sömmering, obschon ich gerne zugebe, dass ich hierüber wenig weiss. Doch sehen Sie vielleicht bey dieser Gelegenheit, warum einige von unsern Brüdern nicht über drey zählen können; warum andere den Begriff von Eigenthum nicht wollen gelten lassen; warum ein ewiger Friede unter den Menschen eine ewige Schwärmerey bleibt u.s.w.

2. Vom Unterschiede der Weiber- und Männerköpfe. Was ich hierüber zu sagen hätte, bleibt unter uns. Wir wissen es alle, dass Weiberköpfe schwerzu entziffern sind. 3. Über Fysiognomik. Hier zeige ich, dass ich nichts weniger als Fysiognomiker bin. Ich höre, dass die Herrn Gelehrten das Kind getauft haben, ehe es auf der Welt war. Sie nennen mich einen Kranioskopen und meine aufgestellte Wissenschaft eine Kranioskopia. Allein fürs erste sind mir alle die gelehrten Wörter zuwider; fürs zweite ist das nicht der Titel, der mir gebührt und der mein Gewerb gehörig bezeichnet. Der Gegenstand meiner Untersuchung ist das Hirn; der Schedel ist es nur insofern, als er ein getreuer Abdruck der äussern Hirnfläche ist und ist folglich nur ein Theil des Hauptgegenstandes. Es wäre daher diese Benennung eben so einseitig, als wenn man den Dichter einen Reimemacher hiesse. Endlich führe ich einige Beiyspiele an, um einstweilen meinen Lesern etwas zum Prüfen zu geben, damit sie nicht allein aus Grundsätzen, sondern auch nach Thatsachen urtheilen mögen, was sie ungefähr in der Folge von diesen Entdeckungen hoffen können. Sie wissen ohnehin, mein Lieber, wie streng ich da im Vergleichen zu Werke gehe. Denn finde ich zum Beyspiel am gutmüthigen Esel nicht eben das Merkmal wie am gutmüthigen Hunde und an dem nicht so wie am gutmüthigen Hahne oder Filosofen, und zwar nicht an jedem an der nämlichen Stelle; so hat ein Zeichen keinen Werth für mich, weil ich in den Naturwerken keine Ausnahme annehme. Zum Schluss warne ich noch meine zu unbedingten Anhänger gegen den schnöden Gebrauch der vorgetragenen Lehre, indem ich sie mit einigen Hindernissen bekannt mache. Von der andern Seite schaffe ich mir einige Widerspenstige vom Halse.

Erlauben Sie mir noch, dass ich zwey wichtige Gebrechen an meinem Werke rüge. Erstlich wäre es meine Pflicht und mein Vortheil gewesen, wenn ich mich mehr nach dem Geschmacke des Zeitalters gerichtet hätte. Ich hätte unbedingt behaupten sollen, man könne alle Fähigkeiten und alle Neigungen aus dem Kopf und Schedelbau erkennen. Einzelne Erfahrungen hätte ich für tausendfältiger ausgeben sollen, das ganze zu einem Studium machen und nicht so vielem Forschen und Vergleichen unterwerfen, so viel Vorkenntnisse und Beharrlichkeit erheischen und noch obendrein nicht auf dem Pegasus, sondern' nur auf einer Schildkröte den Parnass ersteigen sollen. Wo bleibt der Reitz, wo folglich die Theilnahme? Die so vielfältigen vorgreiflichen, witzigen und unwitzigen Machtsprüche über mich, noch lange ehe man weder mein Unternehmen, noch den Zweck desselben kannte, hätten mich doch anschaulich überzeugen sollen, dass die Menschen mit ihren Entscheidungen nicht - auf Untersuchungen warten.

Zweitens merke ich, dass ich das sogenannte a priori oder die Von-vornige Filosofie nicht sattsam gewürdigt habe. Ich habe hier die' Schwachheit gehabt, von mir auf andere zu folgern. Was ich nämlich bisher durch eigentliches Vernünfteln für ausgemacht hielt, habe ich gewöhnlich früher oder später entweder mangelhaft oder irrig gefunden. Sogar das Erfahren und das Erfahrne richtig zu beurteilen, ist mir immer schwerer geworden, obschon ich überzeugt bin, dass ich nur auf diesem Wege der Erfahrung Wahrheiten finden kann. Es ist aber möglich, sehr möglich, dass andere ein grösseres Organ haben, a priori zu Erkenntnissen zu gelangen. Sie werden daher so billig seyn, und nicht von mir fordern, dass ich mich jemal mit andern Waffen als die meinigen sind, in Streit einlassen solle.

Wien, den 1. Oktober 1798.

 

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I am grateful to Wolfgang Schütz for his assistance with procuring this text.

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